- „Crash. Ein Drama in vier Wänden“ im Theater Kom(m)ödchen Düsseldorf, Foto: Horst Klein
Die Spielstätten in NRW zeigen, dass durch Corona eine ganz neue Dimension der Politisierung auf der Bühne stattfindet. Die Krise nimmt auch inhaltlich einen enormen Einfluss auf die nächste Spielzeit. Die Frage ist allerdings: Werden wir eine Aufarbeitung oder eine bewusste Ablenkung von der Pandemie erleben?
Autorinnen: Lilly Schäfer, Luisa Berlinicke / Redaktion: Caecilia Geismann, Marina Knust
Das Theater gilt als ein gesellschaftspolitischer Ort, das hat sich in den folgenden Gesprächen deutlich gezeigt. Im Hinblick auf die Ereignisse und Auswirkungen der Corona-Pandemie kommt nun die Frage auf, ob sich das Theater auch den aktuellen Problemen der Krise widmen wird. „Unbedingt“, findet Tina Jücker, künstlerische und organisatorische Leiterin des Bonner Theaters Marabu. „Auf keinen Fall“, sagt Volker Lippmann, Schauspieler, Regisseur und Geschäftsführer des Tiefrot Theaters in Köln.
Ohnmacht und soziale Isolation, Verschwörungstheorien und Medien-Misstrauen, Systemrelevanz und Wertschätzung, neue Normalität und social distancing – all diese Begriffe prägen das letzte Jahr der Pandemie. Die Corona-Krise bringt neue Missstände ans Licht und verleiht alten neues Gewicht. Diesen Missständen müsse man sich unbedingt annehmen, denkt Tina Jücker. Mit einer leidenschaftlichen Vehemenz und Präzision macht sie klar, dass Kunst ihrer Rolle in der Gesellschaft nicht gerecht werde, wenn sie lediglich der Ablenkung und Verdrängung diene.
Tina Jücker
Kunst hat die Aufgabe Stellung zu beziehen zu der Welt, in der wir leben, Haltung zu beziehen und auf Missstände aufmerksam zu machen.
Das Theater Marabu produziert pro Spielzeit etwa drei eigene Stücke und es verwundert kaum – das gesamte Repertoire ist ausschließlich zeitgenössisch. Auf dem aktuellen Spielplan steht das Outdoor-Stück Master of Disaster, welches die Sorgen von Grundschulkindern thematisiert. Schauplatz ist ein Pausenhof, auf dem ein alleinstehender Rucksack gefunden wird. Mit viel Krach und überschwänglicher Panik schafft der Reinigungstrupp es schließlich den Inhalt des Schulranzens zu offenbaren. Dieser entpuppt sich als Kummerkasten und verbirgt viele kleine Briefchen, die die Ängste der Schulkinder enthüllen. Das Stück basiert auf einer realen Recherche, die das Theater im Jahr 2021 mit Schüler*innen durchgeführt hat und nimmt sich somit der enormen psychischen Belastung von Kindern während der Pandemie an.
Es sei jedoch in keiner Weise ein Trauerspiel, sondern vielmehr ein kleines Spektakel mit Blechblasinstrumenten, viel Witz und Energie. Ein anderes Stück, das aktuell noch mitten in der Produktion steckt, trägt den Titel Touch. Es beleuchtet verschiedene Perspektiven von Berührung, so in etwa aus der Sichtweise eines Tätowierers oder einer DJane. Auch hier sollen die Auswirkungen der Corona-Krise nicht konkret thematisiert werden, sondern in dem symbolaufgeladenen Akt des Berührens aufgearbeitet werden. „Wir haben uns gefragt was wohl die größte Sehnsucht von allen ist – die Nähe!“ erzählt die künstlerische Leiterin.
„Die Leute können das Wort Corona nicht mehr hören!“
Dessen ist sich Volker Lippmann sicher. Der ehemalige Schauspieler und Geschäftsführer des Tiefrot Theaters nimmt sich sofort Zeit für ein Gespräch. Er ist humorvoll, wortgewandt und zuversichtlich, nichts in seiner Stimmung lässt darauf schließen, dass sein Theater seit über sechs Monaten geschlossen ist. Man merkt ihm seine 30- jährige Arbeitserfahrung in der Film- und Theaterwelt an, wenn er souverän feststellt, dass die Zuschauer*innen im Theater „nun mal nicht immer ihre eigene Geschichte aufgezeigt bekommen wollen.“ Aus diesem Grund zeige er im Tiefrot nicht nur Zeitgenössisches, sondern auch viele altbewährte Klassiker wie zum Beispiel die Dreigroschenoper.
Pro Spielzeit werden circa vier Eigenproduktionen und fünf bis zehn Gastspiele im Theater aufgeführt. Bis Dezember werde keines davon die Pandemie und ihre Auswirkungen behandeln oder verarbeiten. Solange wir noch mitten in der Krise stecken, werde das auch so bleiben. In der kommenden Spielzeit setze er auf intelligente Komödien und durchdachte Witze „mit Hirn dahinter.“ Beide Stücke, sowohl Der eingebildete Kranke als auch Diener zweier Herren, die im Sommer im Tiefrot anlaufen, seien altbewährte Klassiker, dennoch aktuell und hochpolitisch. Besonders ersteres greift gegenwärtige Sujets auf, so zum Beispiel das Verhältnis von Krankheit und Tod.
Auch wenn sich der Schauspieler und Regisseur bewusst gegen das Thematisieren der Krise entschieden hat, wehrt er sich temperamentvoll dagegen, das Theater als einen Zufluchtsort oder eine Form der Ablenkung zu betrachten. Das Theater sei für ihn ein hochpolitischer Ort! Die Pandemie habe definitiv einiges in den Köpfen der Menschen wachgerüttelt und das werde sich auch zeigen. „Das Theater der letzten Jahre war eher so ein Gefall-Theater, also Hauptsache es gefällt. Ich glaube es wird in Zukunft wieder politischer.“
Weder Verdrängung noch Aufarbeitung
Das Düsseldorfer Schauspielhaus legt seinen Fokus nächste Spielzeit auf anderweitige gesellschaftliche Herausforderungen wie Geschlechteridentität, Rassismus oder die ungerechte Einkommensverteilung. Diese seien in der Krise nämlich entweder vollkommen unterrepräsentiert gewesen oder oft auch noch verstärkt ans Licht gekommen, sagt der Chefdramaturg Robert Koall. Die Pandemie werde also auch hier nicht konkret thematisiert, trägt als Fädenzieher aber sehr wohl seinen Teil dazu bei.
Auch Tim Mrosek, Dramaturg und stellvertretender Leiter der Studiobühne Köln, erzählt, dass sich die (Co-) Produktionen des Hauses kaum mit der Pandemie beschäftigen. „Das war keine bewusste Entscheidung. Es kam nur niemand damit. Ich glaube die Künstler*innen haben auch gar keine Lust drauf sich damit auseinanderzusetzen, weil man sich sowieso die ganze Zeit damit auseinandersetzt.“ Geplante Stücke handeln beispielsweise von der katholischen Kirche oder dem politisch inkorrekten Sprachgebrauch im Deutschrap. Es ist erfrischend mit ihm zu sprechen, denn er ist jung, authentisch und man merkt ihm an, dass er sich nicht nur mit dem aktuellen Diskurs rund um das Thema Diversity in der Kulturszene auskennt, sondern auch voll und ganz dahintersteht.
Tim Mrosek
Ich würde behaupten Theater kann gar nicht unpoilitisch sein. Eigentlich ist ja jeder menschliche Akt in irgendeiner Weise politisch.
Beide Dramaturgen schreiben dem Theater eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe zu. Auch sie beobachten eine zunehmende Politisierung des Theaters, jedoch vielmehr in ihren Strukturen als in ihren Inhalten. So sehe Robert Koall zum Beispiel eine Veränderung im Diskurs um eine antirassistische, genderneutrale und -gerechte Besetzung. Eine solche Auseinandersetzung schien ihm ganz besonders am Herzen zu liegen, gerade weil es in den letzten Jahren zu rassistischen Vorfällen am Düsseldorfer Schauspielhaus kam. Tim Mrosek spricht vorsichtig von einem Wandel im politischen Selbstverständnis einiger Theatervereine und -häuser, der sich langsam auch in den innerbetrieblichen Machtstrukturen manifestiere.
Ein Blick in die Spielpläne
Ein Blick in die neu angekündigten Spielpläne in NRW unterstützt die angeführten Meinungen: Die Programme zeigen, dass die Theaterszene darauf brennt, ihr Publikum zurück zu holen und dabei vor allem auf Komödien setzt. Kritisch und durchdacht, aber dabei locker und leicht, so lautet die Devise. Ob Klassiker wie Der Widerspenstigen Zähmung von Shakespeare oder neuere Kost wie Bang Boom Bang , eine Gangsterkomödie die auf dem Film von Peter Thorwarth basiert. Es soll wieder unterhalten werden. Eine Aufarbeitung der Corona-Krise ist dabei jedoch nicht überall zu erkennen. Nicht alle Schauspielhäuser legen ihren Fokus auf eine Auseinandersetzung mit den letzten Monaten. Die Spielpläne spiegeln eine Gesellschaft wider, die es nicht erwarten kann, die Pandemie hinter sich zu lassen und diese dennoch nicht vergessen wird. Technisch gesehen haben sich in den vergangenen Monaten neue Vermittlungs- und Theaterformen entwickelt. Es gibt Stücke, die extra darauf ausgelegt sind, sowohl vor Ort, als auch digital konsumiert zu werden. Die Änderungen und Anpassungen, die aus der Not geboren wurden, werden weiterhin als Möglichkeiten wahrgenommen und umgesetzt. Ein Beispiel ist das Digitale Ruhrfestspielhaus.
Mit Witz, Ironie und jeder Menge Politik
Diese neu entwickelten Formate finden sich nicht nur in ihrem Übertragungsmedium, sondern auch in ihrer Szenerie wieder, wie zum Beispiel in dem hybriden Theaterstück Crash. Ein Drama in vier Fenstern am Kom(m)ödchen Theater Düsseldorf. Die Bühne selbst wird zur Videokonferenz und zeigt vier sich streitende Geschwister, die alle eine andere gesellschaftliche Gesinnung repräsentieren. Pandemiebedingte Probleme und Herausforderungen wie Home-Office mit Kindern, Corona-Müdigkeit und ellenlange Zoom-Calls mit Internetproblemen werden zwar spezifisch benannt, sind aber mit einer ordentlichen Prise Witz versehen und zudem auch nicht handlungsleitend. Worüber wirklich gestritten wird, sind Themen wie Gendern, Feminismus, Rassismus, Wirtschaftskritik aber auch Verschwörungstheorien. „Damit greift das Stück den [aktuellen] politischen Diskurs auf und verlagert ihn in den Bereich des Privaten“, erklärt Luzie Lorentz, die Pressezuständige des Kom(m)ödchens.
Theater ist und bleibt politisch
In den verschiedenen Meinungen der angesprochenen Intendant*innen, Dramaturg*innen und künstlerischen Leitungen finden sich viele Gemeinsamkeiten. Die Corona-Pandemie hat ihre Spuren in der Gesellschaft und somit auch auf der Theaterbühne hinterlassen. Allerding wurde auch der Blick auf andere wichtige politische Probleme geschwächt. Vieles ist untergegangen im Chaos der Krise und das Theater möchte sich auch diesen Themen widmen. Der starke Fokus auf Komödien zeigt dabei, dass eine allgemeine Dünnhäutigkeit innerhalb der Gesellschaft erwartet wird. Man möchte die Leichtigkeit der Kultur nutzen, um eine Auseinandersetzung voran zu treiben.
Die Monopolisierung des öffentlichen Diskurses durch Corona hat unser letztes Jahr stark geprägt. Die Theaterszene konzentriert sich als Gegenmaßnahme auf eine bewusste Mischung der Themen. Nur die wenigsten verspüren das Bedürfnis, sich der Thematik der Pandemie per se anzunehmen. Dennoch bleibt sie die Ausgangssituation und wohl oder übel auch Inspirationsquelle für jedes kreative Schaffen. Demnach ist es schwer, Ablenkung und Aufarbeitung klar voneinander zu trennen. Tendenziell bewegt sich die Mehrheit hin zu einer Theaterkunst, die die Krise inhaltlich vermeidet, die dabei jedoch keinesfalls ihre gesellschaftliche Aufgabe vergisst. In unseren Gesprächen hat sich gezeigt, dass das Theater ein politischer Ort ist. Es war vor der Pandemie politisch und wird auch danach seinen politischen Anspruch nicht abgeben. Dennoch ist dieser Anspruch ein multidimensionaler. Es geht eben nicht nur um die Coronakrise. Es geht auch um sie.