Das Grippegespenst und vergiftete Zigaretten – Was wir heute von der Spanischen Grippe lernen können

  • Das Alberta Board of Health hing circa 1918 Plakate wie diese auf, um auf Schutzmaßnahmen aufmerksam zu machen. Bildquelle: Glenbow Archives, NA-4548-5, entnommen aus Wikimedia Commons.

Dr. Matthäus Wehowski arbeitet beim Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden. Eines seiner Forschungsprojekte nimmt Feindbilder während der Spanischen Grippe in den Blick. Im Interview stellt er Vergleiche mit der heutigen Corona-Pandemie an und verrät, was wir vom Umgang mit der Spanischen Grippe lernen können.

Autor: Rafael Greboggy / Redaktion: Jonas Reese


Sie forschen zur Spanischen Grippe (1918-1920). Wie hat man in Deutschland damals reagiert, als man plötzlich gesehen hat, dass überall Menschen krank werden?

Mein Forschungsschwerpunkt ist das Dreiländereck zwischen Polen – Tschechoslowakei – Deutschland ab 1918. Hier lässt sich etwas Interessantes beobachten: Selbst am Höhenpunkt der Spanischen Grippe, so im Oktober/November 1918, als so viele Menschen krank werden und sterben, ist die Spanische Grippe nie auf der ersten Seite einer Zeitung. In den Zeitungen, die ich mir angeschaut habe, wird sie so ab Seite sieben oder acht behandelt, selbst wenn die Auslastung der Krankenhäuser immer stärker wird, wenn kritische Industrie- und Infrastrukturbetriebe ausfallen, die Todeszahlen immer größer werden. Es heißt immer nur: Wie sieht die Friedensordnung aus? Was macht der Waffenstillstand? Wie schafft man diese neue politische Ordnung nach der Niederlage im 1. Weltkrieg? Die Spanische Grippe ist nie so zentral, wie man vielleicht erwarten würde.

Wie lässt sich das erklären?

Man muss sich vor Augen halten, dass wir es mit einer Zeit zu tun haben, in der sehr viele Krisen gleichzeitig entstehen. Wir haben das Kriegsende, die absehbare Niederlage an der Front, die ab dem Sommer 1918 immer deutlicher wird und den öffentlichen Diskurs bestimmt. Das sieht man an den Zeitungen. Dort ist das Hauptthema die staatliche Neuordnung. Das Phänomen an der Spanischen Grippe und auch der Corona-Pandemie heute ist, dass verhältnismäßig wenige Leute sterben, wenn man es auf die Prozentzahlen herunterrechnet. Die Zahlen der Toten sind trotzdem dramatisch hoch, weil sich einfach so viele Menschen angesteckt haben. Es betraf ja nicht nur Europa, etwa Frankreich oder die Schweiz, sondern auch China oder Indien. Man sah natürlich, dass in der eigenen Stadt viele starben, aber dass es die bis dahin und bis heute größte Gesundheitskatastrophe der Menschheit war, wurde den Menschen erst relativ spät bewusst.

Wie gut lässt sich die Spanische Grippe mit Corona vergleichen?

Das ist eine Frage, bei der sich die Wissenschaft nicht einig ist. Die Art der Ansteckung ist gleich. Beides sind Influenza-Erkrankungen, die über die Luft übertragen werden. Beides sind Krankheiten, die die Lunge angreifen. Der große Unterschied war, dass bei der Spanischen Grippe vor allem junge Menschen erkrankt sind. Man hat damals geglaubt, dass alte Menshen und Menschen mit Vorerkrankungen eher daran sterben. Man dachte auch, dass Mangelernährung zu den vielen Toten beitrug, aber dem war nicht so. Es hat junge, gesunde und auch gut genährte Menschen getroffen. In Breslau kann ich gut nachweisen, dass überproportional viele junge Frauen zwischen 20 und 30 an den Folgen der Spanischen Grippe gestorben sind.

Außerdem muss man bedenken, dass die Wellen, die es damals gab, fast parallel wie die zur Corona-Pandemie verlaufen. Eine leichte Frühjahrswelle 1918 mit verhältnismäßig wenig Toten; dann eine sehr starke Welle im Oktober/November 1918, dann nochmal eine Frühjahrswelle 1919 mit vergleichweise weniger Toten als im letzten Herbst. Diese Wellen erlebt man auch heute, eine spannende parallele Entwicklung. Hoffentlich bleibt uns aber die vierte Welle erspart.

Wie ist es mit Schutzmaßnahmen und Hygieneverordnungen? Gab es die damals auch?

Maßnahmen gab es damals nicht überall. Es gab einen Reichsgesundheitsrat in Berlin, zu dem die deutsche Regierung im Herbst 1918 die namhaften Ärzte aus der Charité und anderen Kliniken zusammengerufen hat. Österreich-Ungarn hatte als einer der ersten Staaten auch einen Gesundheitsminister. Sowohl Deutschland als auch Österreich-Ungarn haben aber letzten Endes keine zentralen Maßnahmen vorgegeben, sondern die Städte selbst entscheiden lassen. Das haben sie auch getan, auf sehr unterschiedliche Weise. In Wien gab es sehr starke Einschränkungen. Theater, Kinos und öffentliche Veranstaltungen aller Art waren dort zur Zeit der Ausbreitung verboten, also ab Oktober/November 1918.

In Berlin oder Breslau gab es diese Maßnahmen nicht. Eine Begründung war, dass kranke Leute sowieso nicht ins Kino gehen würden; damals hatte man nicht verstanden, dass Menschen mit wenigen oder keinen Symptomen auch die Krankheit verbreiten konnten. Eine zweite interessante Begründung der Stadtverwaltung war, dass man die Freiheit der Bürger nicht einschränken wolle. Eine sehr interessante Argumentation für eine Gesellschaft, die sich erstens im Krieg befindet, in der es aber zweitens nur ein sehr eingeschränktes demokratisches System gibt, mit einem Monarchen an der Spitze und einem verhältnismäßig schwachen Parlament.

Damals zeichnete sich aber im Zuge des Weltkrieges der politische Umbruch an, da wollte man der Bevölkerung nicht das nehmen, wovon man sowieso schon zu wenig hatte. Zu diesem Zeitpunkt war man ja schon vier Jahre lang im Krieg. Man wollte keinen Widerstand im eigenem Lager generieren. Trotzdem gabe s auch Städte, die das öffentliche Leben stark eingeschränkt haben.

Wie langfristig waren diese Einschränkungen?

Die Welle im Herbst war sehr heftig, aber schnell wieder vorbei. Das hat damit zu tun, dass sehr viele Menschen sehr schnell gleichzeitig erkrankt sind. Die Städte standen still, aber nicht wegen der Einschränkungen. In Breslau gab es ja solche Maßnahmen nicht. Die Straßenbahnen fuhren nicht, Geschäfte waren geschlossen, das Heizwerk hat nicht funktioniert, weil so viele Menschen aus der Belegschaft krank geworden sind.

Sie haben auch von Einschränkungen im Kulturbetrieb gesprochen. Wie präsent war die Spanische Grippe in der Kunst?

Allgemein etwas zu „der Kunst“ zu sagen ist natürlich schwierig. Ich habe in meinen Quellen aber kulturelle oder künstlerische Verarbeitung der Spanischen Grippe gefunden, etwa in Form von Gedichten. In einem schlesischem Gedicht wird der Streit beschrieben, ob man eigentlich das Fenster aufmachen oder lieber zumachen soll, wenn das „Grippegespenst” umherzieht. Ich habe mir auch Memoiren angeschaut oder andere Ego-Dokumente wie Tagebücher. Erstaunlich viele Menschen werden in dieser Zeit krank, reflektieren das aber nicht groß. Hier wird die Spanische Grippe thematisiert, auch wenn sie nicht immer so genannt wird, aber dann gehen die Themen einfach weiter. Manchmal heißt es nur „Ich war jetzt zwei Wochen lang krank.”

Aus heutiger Perspektive ist es sehr erschreckend, wie groß die Zahl der Toten gewesen ist. Wenn man aber den Tod durch die Fronterfahrung gewöhnt ist, ist das auf einmal nicht so ein krasser Schock für die Menschen damals. Was hervorgehoben wird, ist, dass viele Frauen gestorben sind. Dann wird immer der Kontrast beschrieben: Die Männer sterben an der Front, die Frauen zuhause an der Grippe.

Überwiegt Ihrer Meinung nach das Schweigen über die Grippe oder die Auseinandersetzung mit ihr?

Das ist schwierig zu verallgemeinern. Ich musste aber lange suchen, bevor ich so ein schönes Grippegedicht gefunden habe. Es ist glaub ich eher eine private Katastrophe als eine öffentliche, wenn man das so pauschal in einem Satz zusammenfassen möchte. Es gibt verhältnismäßig wenig Reflektion darüber. Auch zu unserem Thema der Feindbildkonstruktion findet man wenig.

Das Gedicht mit dem Titel „s Grippegespenst“ erschien 1918 in der Schrift „Durfmusikke“, Jg. 6, Nr. 126. Bild entnommen aus dem Archiv der Śląska Bibliotheka Cyfrowa.

Sie forschen zu Feindbildradikalisierungen im Rahmen der Spanischen Grippe. Was genau nehmen Sie da unter die Lupe?

Die Idee war ursprünglich zu sagen: Wir vergleichen die Sitatuion heute in der Corona-Pandemie mit der Situation 1918. Heute haben wir ja aus verschiedenen politischen Richtungen, aber auch aus dem rechtsextremen Milieu Theorien über mögliche Verantwortliche für den Krankheitsausbruch. Es gibt ja Leute, die behaupten die Krankheit generell sei nur erfunden und werde eingesetzt, um die Bevölkerung zu manipulieren. Manchmal spricht man ganz konkreten Personen die Verantwortung zu, etwa Bill Gates, der Weltfinanzelite, die den “great reset” haben möchte, die die Bevölkerung durch die Maßnahmen oder das Virus selbst reduzieren möchte. Das meinen wir mit Feindbildkonstruktion.

1918 ist das viel diffuser, weil die Spanische Grippe nie die Art der Öffentlichkeit erreichte, wie sie die Corona-Pandemie hat. Es gibt ein paar abstruse Verschwörungstheorien über den Ursprung, genau wie heute. Das sind aber nur einzelne Stimmen, nicht der Mainstream. Es gab in einer polnischen Zeitung die Theorie, dass die Spanische Grippe ein Überrest der chemischen Kampfführung des ersten Weltkriegs gewesen sei. Das Gas aus den eingesetzten Gasgranaten hätte sich unkontrolliert ausgebreitet und die Spanische Grippe verursacht. Ein anderer Zeitungsartikel spricht von britischen Soldaten, die deutschen Kriegsgefangenen vergiftete Zigaretten gaben, aber ob da überhaupt die Spanische Grippe gemeint ist, wird nicht ganz klar.

Infektionskrankheiten wie Cholera und Tuberkulose hat man immer an bestimmten Gruppen festgemacht, vor allem den osteuropäischen Juden. Sie als Träger der Infektionen zu verunglimpfen war ein typisches Narrativ dieser Zeit. Auch später, als nach der Revolution in Russland die Bolschewiki aufstieg, gab es Einige, die sagten, die Bolschewiki würde die osteuropäischen Juden gezielt nutzen, um Europa mit diesen Krankheiten zu überziehen. Nur bei der Spanischen Grippe findet man das nicht.

Das entspricht ja nicht den Erwartungen. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Bestimmte Krankheiten hatten ja auch soziale Implikationen. Von Cholera und Ruhr waren vor allem untere Schichten betroffen, damit war dann eine soziale Ächtung verbunden. Die Großbürger in Villen außerhalb der Stadt hatten weniger Risiko sich an bestimmten Krankheiten anzustecken. Die Symptome dieser Krankheiten, Ausschläge, Durchfall, und so weiter machten sich auch körperlich bemerkbar. Die Spanische Grippe waren so schnell vorbei, weil die Menschen einfach schnell wieder gesund waren oder schnell gestorben waren. Das führte dazu, dass es wegen ihr keine Ausgrenzung gab.

Eines der bekanntesten Opfer war ja sogar der spanische Monarch. Wenn der spanische Monarch daran erkranken kann, kann es jeder. Wäre er an anderen Leiden erkrankt, wäre sowas nie öffentlich gemacht worden. Man wusste, die Spanische Grippe kann jeden treffen.

Was können wir lernen, indem wir auf die Spanische Grippe zurückblicken?

Das ist die schönste Frage für den Historiker, die historia magistra vitae (Anmerkung d. Autors: Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens). Was können wir lernen? Die historischen Umstände der Spanischen Grippe sind natürlich vollkommen anders als unsere, eben auch dadurch, dass es damals nicht nur eine Krise gab, sondern eine ganze Reihe von Krisen, die mit ihr zusammenhingen.

Was wir lernen können ist nicht so eingeschränkt zu gucken, also uns nicht darauf zu beschränken, dass jetzt gerade die Inzidenzzahlen in Deutschland niedrig sind, sondern das weltweite Bild zu sehen. Eine Pandemie heißt ja nicht, dass die Krankheit besonders schlimm ist. Eine Pandemie ist eine globale Krankheit. Die Spanische Grippe war für die Menschen damals vergleichsweise weniger schockierend, als man es annehmen würde, obwohl die Todeszahlen so groß waren, weil ihnen diese Perspektive gefehlt hat. Man sollte daraus den Schluss ziehen, das Ganze als globale Krise zu sehen.

Nach den Daten, die ich bisher gesehen habe, ist die Corona-Pandemie nach der Spanischen Grippe die tödlichste Gesundheitskatastrophe bisher. Deutschland hat jetzt an die 90.000 Tote. Das ist ja schon eine erschreckend hohe Zahl. Alles Andere, was 90.000 Tote verursacht, das ist ja unvorstellbar. Das war auch damals eine unvorstellbare Zahl an Toten. Aber auch diese globale Dimension des Ganzen: Wieviele Menschen sterben in Brasilien, in Indien oder anderen Staaten der Welt. Nicht nur den Blick auf Deutschland und seine Nachbarländer zu beschränken, sondern eine Pandemie als globales Phänomen zu verstehen, wäre etwas, was man aus der Spanischen Grippe lernen könnte.

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