Level Up versus Game Over: Wie uns Videospiele in der Pandemie beeinflussen

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Viele stellen sich seit einem Jahr die Frage, womit sie die Zeit zuhause während der Pandemie verbringen können. Für mehr als die Hälfte der Deutschen lautet die Antwort: Gaming. Überwiegen dabei die Vorteile oder doch die Risiken?

Autorin: Annika Menzel / Redaktion: Rafael Greboggy


Im Gegensatz zu vielen Branchen, die unter der Krise leiden, zählt die Videospielindustrie zu den Gewinnern der belastenden Umstände. Konsolen wie die Nintendo Switch, die man sonst in jedem Elektronikmarkt erwerben konnte, sind auf nicht absehbare Zeit ausverkauft. Daran sind nicht nur Schwierigkeiten bei der Herstellung schuld, sondern auch die große Nachfrage. Nach einer Auswertung vom Verband der deutschen Games-Branche (game), die auf Daten des Marktforschungsunternehmens Growth from Knowledge beruht, spielen 58 Prozent der Deutschen heutzutage Computer- und Videospiele. Der Altersdurchschnitt liegt bei 37 Jahren und ist damit höher, als man zunächst vermuten würde. Insgesamt nutzten mehr als 18 Millionen Menschen hierzulande während der Pandemie die Möglichkeit, über das Internet gemeinsam mit Freunden und Verwandten zu spielen.

Wenn man über Gaming spricht, kommt man nicht um die möglichen Risiken herum. Gewaltverherrlichende Darstellungen oder drohender Realitätsverlust sind nur zwei Beispiele und wurden bereits vielfach in Diskussionen und Artikeln thematisiert. Durch die Pandemie treten nun verstärkt neue Probleme auf, beispielsweise Suchtverhalten oder Eskapismus. Allerdings können Videospiele auch einen positiven Einfluss auf die Spielenden haben und gerade in Zeiten von Corona ein Gefühl des Zusammenhalts vermitteln, wenn verantwortungsbewusst damit umgegangen wird.

#PlayApartTogether – Gemeinsam durch die Krise

Im Jahr 2018 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Computerspielsucht, auch Gaming Disorder genannt, als eine eigenständige Krankheit anerkannt. Game kritisiert die Aufnahme der Spielesucht in den Katalog und befürchtet Missverständnisse und Fehldiagnosen. Zahlreiche Spielende könnten stigmatisiert werden, weil kein Verständnis für die Medienkultur der neuen Generation vorhanden ist und dies zu falschen Interpretationen führt. Die Anerkennung entbehrt nach der Aussage des Verbands derzeit noch der notwendigen wissenschaftlichen Basis.

Wie bei allen Formen des Medienkonsums kann bei Videospielen die Kontrolle über das eigene Verhalten verloren gehen. Die offizielle Anerkennung schafft aber auch neue Möglichkeiten für die Betroffenen, an dem abhängigen Verhalten zu arbeiten. Wie die Auswertung von game gezeigt hat, sind Spiele nämlich längst kein Nischenprodukt mehr, sondern ein weit verbreitetes Hobby in allen Altersklassen. Gaming ist mittlerweile ein fester Bestandteil der Kultur, Entwicklerstudios werden sogar von der Regierung mit Fördermitteln unterstützt.

Und gerade deshalb stellen Videospiele eine kulturelle Alternative dar. Während man zur eigenen Sicherheit auf Konzerte oder Theaterbesuche verzichten muss, sind Spiele für viele Leute zugänglich. Je nach Interesse kann man entweder alleine oder online mit Freund*innen spielen. Unter dem Motto #PlayApartTogether hat die WHO gemeinsam mit internationalen Unternehmen im letzten Jahr zum kooperativen Spielen via Internet aufgerufen. Dadurch bleibt man vernetzt und verbringt trotz Distanz gemeinsame Zeit mit dem Freundeskreis.

Linda Scholz vom Spieleratgeber-NRW, der durch die Fachstelle für Jugendmedienkultur Nordrhein-Westfalen unterstützt wird, hat uns per Mail ein Statement zum Thema „Gaming in Corona-Zeiten“ gegeben. In diesem beschreibt sie, welche Herausforderungen und Vorteile sich ihrer Erfahrung nach gezeigt haben:

Zu viel des Guten gibt es auch bei Games

Die jüngeren Generationen wachsen mit Medien auf, zu denen auch Videospiele zählen. Im Gespräch mit dem Pädagogen Timo Z. wies dieser auf die Risiken hin, die ein zu hoher Konsum von Spielen bei Kindern haben kann. Erfolgt kein Ausgleich zur Bildschirmzeit, führt das zu körperlicher Inaktivität. Der Bewegungsmangel kann sich dann in verringerter Ausdauer und Belastbarkeit äußern, wodurch betroffene Kinder nicht mehr mit Gleichaltrigen mithalten können. Zudem ist das Gehirn in jungen Jahren sehr lernfähig und prägt sich auch schädliche Verhaltensweisen ein, die dann nur über einen langen Zeitraum verlernt werden können. Das verdeutlicht die negativen Folgen für Kinder. Auch nach der Aufhebung der Maßnahmen lassen sich diese Verhaltensmuster nicht von einem Tag auf den anderen korrigieren. Während ein moderater Grad an Eskapismus in den aktuellen Zeiten durchaus guttut, können die Grenzen auch verschwimmen: Es droht Realitätsverlust anstelle von Realitätsflucht, im schlimmsten Fall vermischen sich Realität und Fiktion in der kindlichen Psyche.

Bei Kindern und Jugendlichen sollte man daher aufmerksam bleiben. Genau wie bei der Frage nach einem potenziellen Zusammenhang zwischen Ego-Shootern und Gewaltbereitschaft, lässt sich der Einfluss von Videospielen nicht pauschalisieren, weder bei Kindern noch bei Erwachsenen. Ein Spiel wie „Call of Duty“ hat ganz andere Auswirkungen auf eine Person als ein entspanntes Farm-Spiel wie „Harvest Moon“ oder ein kreatives Outlet wie „Minecraft“. Auch die psychische Verfassung der Spielenden besitzt dabei eine individuelle und nicht zu unterschätzende Rolle.

Der Begriff Eskapismus, auch Realitätsflucht genannt, gewann im Gaming-Kontext im Frühjahr 2020 stark an Bedeutung. Während des ersten Lockdowns veröffentlichte Nintendo das Simulationsspiel „Animal Crossing: New Horizons“, das sich auch heute noch großer Beliebtheit erfreut. In diesem Spiel zieht man auf eine verlassene Insel, die man nach und nach aufbaut und nach Belieben gestaltet. Es begleiten und unterhalten einen tierische Bewohner*innen, diverse Events zu verschiedenen Jahreszeiten und man kann gemeinsam mit Freund*innen spielen. Vor allem bietet das Spiel jedoch eins: Entschleunigung. Blumen gießen, Fische fangen oder Holz hacken stehen auf dem Programm und irgendwann muss man bis zum nächsten Tag warten, um weiter voranzukommen. Dadurch entführt einen das Spiel in eine eigene kleine Welt, die als ein sicherer Hafen in stürmischen Zeiten agiert. Dadurch sorgt sie auch für Entspannung, die momentan sicherlich jeder gebrauchen kann.

Ein ähnlicher Effekt lässt sich auch mit Büchern oder Filmen erzeugen, jedoch gelten Videospiele als ein besonders immersives Medium. Man erlebt nicht nur eine Geschichte, sondern bewegt sich selbst durch sie. Bei Multiplayerspielen kommt dann noch der Aspekt der Gemeinschaft hinzu, der unabhängig von der Distanz im realen Leben erhalten bleibt. Dies sollte kein Ersatz für virtuelle Treffen oder Telefongespräche sein, solange der persönliche Kontakt eingeschränkt bleibt, bietet aber eine spaßige Alternative.

Moderates Spielen hat positive Auswirkungen

Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte e.V., äußerte sich in einer Pressemeldung ebenfalls zu den Risiken eines erhöhten Konsums. Er spricht von „motorische[n] und sprachliche[n] Entwicklungsstörungen, Lese- und Aufmerksamkeitsstörungen, Schlafstörungen, Depressionen und Übergewicht“, die durch stundenlanges Spielen bei Kindern auftreten können. Einige der Auswirkungen lassen sich allerdings nicht auf das Spielen selbst zurückführen, sondern auf den daraus resultierenden Bewegungs- und Kontaktmangel, der bereits zur Sprache kam. Eine hilfreiche Maßnahme ist dementsprechend, einen festen Ausgleich zu schaffen: Erst ist körperliche Betätigung an der Reihe, dann darf gespielt werden.

Bei allen Risiken, die ein Übermaß an Spielen in sich bergen kann, haben Videospiele nachweislich auch positive Auswirkungen: Sie sorgen für gute Laune. In einem Bericht von Quarks hat die Autorin Verena Mengel herausgestellt, dass Kinder, die circa eine Stunde am Tag mit dem Spielen verbringen, eine höhere Lebenszufriedenheit und soziale Kompetenz aufweisen als Nicht-Spielende in ihrem Alter. Auch hier gilt, dass der Effekt von den ausgewählten Spielen abhängig ist.

Spiele versprechen nicht nur Spaß für Jung und Alt, sondern trainieren auch das Gehirn. Bildquelle: Alexas_Fotos / Pixabay

Trotz der Fokussierung der Forschung auf Kinder und Jugendliche, wenn es um die Einflüsse von Gaming geht, haben Videospiele ebenfalls positive Effekte auf Erwachsene. Laut einer Studie des Max-Planck-Instituts in Kooperation mit der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité in Berlin vergrößert tägliches Spielen mit einer Dauer von 30 Minuten einige Areale in unserem Gehirn. Je mehr Spaß die Proband*innen während des Spielens hatten, in diesem Fall beim Klassiker „Super Mario 64“, umso stärker war der Effekt. Videospiele verbessern nicht nur räumliche Orientierung, Gedächtnisbildung, strategisches Denken sowie Feinmotorik, sondern eignen sich auch als Therapiemittel bei einigen psychischen Störungen. Derzeit wird von den Forscher*innen eine weitere Studie durchgeführt, die an diesen Aspekt anknüpft und die Wirkung von Spielen bei Posttraumatischer Belastungsstörung vertiefend untersucht.

Auch wenn Videospiele psychische Belastungen begünstigen oder hervorrufen können, bieten sie ebenfalls Wege, bei der Behandlung ebendieser zu helfen. Toxische Verhaltensweisen oder Cybermobbing in Communities von Online-Spielen sind nicht von der Hand zu weisen und sollten ernst genommen werden. Aber so, wie man vieles im Leben nicht strikt in gut oder schlecht trennen kann, so lassen sich auch Spiele nicht verallgemeinern. Es gibt nämlich ebenso Fan-Gemeinschaften, die sich gegenseitig unterstützen und die gemeinsame Freude am Spiel in den Vordergrund stellen.

Spähen wir mit dem Fernglas in die Zukunft, bieten Videospiele auch neue Chancen: Wie die beliebten Arcade-Hallen in den 80er Jahren gezeigt haben, können Games auch offline für soziale Interaktion sorgen. Damals besuchte man gemeinsam mit Freunden solche Spielhallen, während sich Gaming mittlerweile fast ausschließlich am heimischen Bildschirm abspielt. Virtuelle Realität (VR) ist ein großer Schritt in die Gaming-Zukunft und zeigt eine neue Kulturform auf, die potenziell ein Nachfolger der Arcades werden kann: VR-Hallen. In einigen Standorten kann man in Deutschland bereits gemeinsam mit einer Gruppe von Leuten in einer solchen Halle VR-Spiele zusammen erleben. Dabei simuliert eine besondere Brille die Umgebung innerhalb des Videospiels, zumeist wird auch mit Bewegungssteuerung gearbeitet. Sollte sich dieses Konzept durchsetzen, eröffnen Videospiele auf sozialer Ebene ganz neue Möglichkeiten.

Virtuelle Realität bieter großes Potenzial für die Spielezukunft. Bildquelle: szfphy / Pixabay

Videospiele in der Pandemie: Potenzieller Fluch, aber kontrolliert ein Segen

Sind Videospiele nun Fluch oder Segen, vor allem während der Pandemie, die sich auf diverse Bereiche unseres Lebens auswirkt? Folgt man der Devise, dass alles im Übermaß schädlich ist, so überwiegen die positiven Aspekte des Gamings. Die Kritikpunkte sind nicht von der Hand zu weisen, lassen sich aber durch verantwortungsvollen Konsum vorbeugen. Spiele können trotz Distanz ein Gemeinschaftsgefühl schaffen, bieten Ablenkung von Sorgen und einen gewissen Grad an Entspannung zugleich. Sie fordern nicht nur das Gehirn, sondern fördern es auch. Wichtig ist es für Kinder und auch Jugendliche, einen sinnvollen Ausgleich zu schaffen, sowohl körperlich als auch sozial. Hält man sich daran, spricht nichts gegen regelmäßige Ausflüge in digitale Welten; im Gegenteil. Auch für Erwachsene ist es bei vorhandenem Interesse sinnvoll, sich mal an eine Konsole zu wagen. Viele Games besitzen außergewöhnliche Spielwelten und Settings, im Gegensatz zu anderen Medien sind sie durch die Interaktivität auch immersiver. Wie wäre es also mal mit einem Ausflug zur japanischen Insel von „Ghost of Tsushima“, anstatt einen Film über Samurai zu schauen?

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