- Edvard Munch, Selbstporträt mit Spanischer Grippe, 1919. Bildquelle: Nationalmuseum Oslo. Abgerufen in Wikimedia Commons.
Vor 100 Jahren suchte die bisher fatalste Grippewelle die Menschheit heim. Die Auswirkungen der großen Influenza-Pandemie bewegte Kunstschaffende aus aller Welt. Ihre historische Bedeutung für Kunst und Kultur ist aber umstritten.
Autor: Rafael Greboggy / Redaktion: Annika Menzel
29. Mai 1918. Die Ausgabe des Kölner Lokal-Anzeigers lädt alle Einwohner von Köln und Umgebung in das Metropol-Theater ein, wo das Stück Der Hias aufgeführt wird. Nur zwei Tage später berichtet die Zeitung von einer „geheimnisvollen Massenerkrankung”, an der in Madrid 80.000 Menschen erkrankt sind. Dort sind die Theater bereits geschlossen. Ein Satz der Kölner Presse drückt die gesamte Unsicherheit der Zeit aus: „Die Ursachen der Epidemie sind vollkommen rätselhaft”. Im Oktober wird dann von Schließungen der Theater und Kinos in Würzburg, Lyon, Straßburg, Wien, Berlin, Budapest und Kapstadt berichtet. Obwohl zu diesem Zeitpunkt die Schulen in Köln bereits geschlossen sind, glaubt man noch daran, dass eine Ausdehnung solcher Maßnahmen auf den Kulturbetrieb vermieden werden kann. Doch die Spanische Grippe hat endgültig Fuß gefasst, und das nicht nur in Madrid oder Köln.
Heute verortet man den Ursprung des Virus in den USA. Im Frühjahr 1918 wanderte die Grippe mit amerikanischen Soldaten nach Westeuropa. Frankreich und England wurden ab April getroffen, heimkehrende Soldaten brachten die Grippe bald auch nach Deutschland. Es war nur die erste von drei Grippewellen. In sechs Monaten tötete die Pandemie 30 Millionen Menschen und damit mehr als der 1. Weltkrieg in vier Jahren, so die Schätzung von Geograf Gerald F. Pyle und Historiker David K. Patterson in ihrem Buch The Geography and Mortality of the 1918 Influenza Pandemic. Auch wenn es immer schwierig ist, belastbare Zahlen aus Quellen herauszuarbeiten, können die beiden Forscher ein plausibles Ergebnis eingrenzen: 50 bis 100 Millionen Todesfälle, die meisten davon in Asien und Afrika. Junge Erwachsene waren überproportional hart betroffen. Zwischen 1918 und 1920, also in nur zwei Jahren, erkrankten 500 Millionen Menschen, ein Drittel der damaligen Weltbevölkerung.
Der Streit um die Verhältnismäßigkeit – damals wie heute
Dies traf auch den Kulturbetrieb. Wenn man die Diskussion über die Einschränkungen betrachtet, ergibt sich dabei damals wie auch heute während der Corona-Pandemie das gleiche Bild: Dr. Matthäus Wehowski der TU Dresden untersuchte die öffentliche Debatte in Österreich. „Bereits während des weltweiten Ausbruchs der Spanischen Grippe […] stritten sich Behörden, Ärzte und Vertreter der Wirtschaft über angemessene Lösungen der Gesundheitskrise”, schreibt er auf dem Blog seines Instituts. Der Historiker rekonstruiert anhand der politischen Debatten und Zeitungen das Geschehen.
Die Spanische Grippe kannte sogar ihren eigenen Karl Lauterbach. Ein Arzt namens Julius Johenegg wandte sich am 18. Oktober mithilfe des Deutschen Volksblattes an die Öffentlichkeit und erklärte sein Entsetzen über die Gleichgültigkeit von Regierung und Bevölkerung. Dies sei die schwerste Seuche, die er je erlebt habe, und harte Abwehrmaßregeln seien der einzig gangbare Weg. Daraufhin setzten die Sanitätskommission der Stadt Wien und der Statthalter von Niederösterreich eigenständig harte Maßnahmen durch: Kinos, Theater, Kirchen und andere Einrichtungen wurden geschlossen. Der Verband der Theaterdirektoren protestierte und forderte eine Wiedereröffnung nach drei Tagen. Der Statthalter blieb hart: Die Dauer der Sperre lasse sich gegenwärtig nicht bestimmen, da dies von dem Verlauf der Grippe abhänge. Ein Monat ohne zahlende Kunden brachte auch den Reichsverband der Kinematographenbesitzer zu scharfer Kritik gegen die Maßnahmen. Kranke Menschen würden das Kino ja ohnehin nicht aufsuchen, die Ansteckungsgefahr sei also gering.
Solche Debatten zeigen, wie unterschiedlich auf die Pandemie reagiert wurde. Wehowski erwähnt, dass in Deutschland der Reichsgesundheitsrat auf Eigenverantwortung setzte, sodass Einschränkungen höchstens von der lokalen Politik erfolgten. Trotzdem ging die Spanische Grippe nicht einfach am Kulturbetrieb vorbei, auch dort nicht, wo von Schließungen abgesehen wurde. Die 1920er waren Zeiten großer Umbrüche in der Kunst. Dabei lässt sich aber nicht klar zwischen Weltkrieg und Pandemie als Ursache unterscheiden.
Ein Bruch mit der Romantik
Wenn man die britische Journalistin und Schriftstellerin Laura Spinney fragt, ist das auch gar nicht nötig. In ihrem Buch 1918 – Die Welt im Fieber zeigt sie auf, wie die Spanische Grippe zu diesen Veränderungen beigetragen hat. Dafür wirft sie Schlaglichter auf Künstler*innen aus aller Welt. Die Autorin spricht von einem großen Riss, der so gewaltsam wie die Teilung des Roten Meeres durch die gesamte Kunstwelt gehe. Diesen Riss beschreibt sie als Wunsch, „die Verbindung zur Romantik zu kappen, den Gefühlsüberschwang einer früheren, fehlgeleiteten Epoche zu reduzieren, abzustreifen”.
Sie nennt dafür viele Beispiele aus unterschiedlichsten Kulturkreisen. In Spanien etwa verschränkte sich die Pandemie auf besondere Weise mit dem Don Juan Mythos. Eine Operette dieses Stoffes stand während der Influenza-Frühjahrswelle in Madrid auf dem Spielplan. Wie Spinney erklärt, verkörperte Don Juan als unverbesserlicher Lebemann in gewisser Weise alles Spanische. Die traditionelle Aufführung des Theaterstücks Don Juan Tenorio zu Allerheiligen musste nichtsdestotrotz im November 1918 wegen der Pandemie ausfallen. Was darauf folgte, war nach Einschätzung der britischen Journalistin die schlimmste Verunglimpfung, die man einem der größten romantischen Helden des 19. Jahrhunderts zufügen könne. Der Intellektuelle und Arzt Marañon fragte sich, ob Don Juans fehlende Nachkommenschaft womöglich auf seine Unfruchtbarkeit oder seinen weibischen Charakter zurückzuführen sei. Spanische Schriftsteller und Philosophen analysierten, reformierten und parodierten den Mythos. Eine völlige Dekonstruktion der Figur.
„Die Ironie ersetzte das Pathos und kippte durch Schriftsteller wie Pirandello (Six Characters in Search of an Author, 1921) und später Samuel Beckett (Murphy, 1938) ins Absurde”, beschreibt Spinney die Richtung der Kunst. „Kafka hatte schon lange einen Blick für den sinnlosen Zufall gehabt, und so muss ihm die Spanische Grippe als besonders geeignetes Beispiel für dieses Genre vorgekommen sein.”
Der neue Umgang mit Krankheit
Weiter nennt die britische Autorin die künstlerische Ausgestaltung von Krankheit als Beispiel für den Wandel. Traditionell werden Erkrankungen in der Romantik höchstens als Metapher für die Krankheit der Seele oder als Symbol für moralischen Niedergang genutzt. Spinney erkennt hier in der modernen Literatur einen Wandel, den sie anhand der Werke von Viginia Woolf, James Joyce und Eugene O’Neil deutlich macht. In ihrem Essay Über das Kranksein äußert Woolf ihr Unverständnis über die Zurückhaltung beim Umgang der Literatur mit Krankheiten; sie habe das Potential neben Liebe, Kampf und Eifersucht als ein literarisches Hauptthema entdeckt zu werden. Schon vor dem Essay verarbeitete sie psychische Krankheit in Mrs Dalloway (1923).
Die Darstellung der Dysfunktionaliät von Körperlichkeit findet sich in James Joyces Ulysses (1922). Eugene O’Neil ließ sich für sein Theaterstück The Straw (1918) von Erfahrungen in einem Tuberkulose-Sanatorium inspirieren. Dort wird Krankheit nicht mehr als Symbol für die Hölle beschrieben: Sie ist selbst die Hölle. „Die Moderne vor dem Ersten Weltkrieg stellte Künstlern und Denkern die Sprache zur Verfügung, die es ihnen erlaubte, jenes ergiebige Terrain zu erforschen, von dem Virginia Woolf sprach.”, schreibt Spinney.
Der Einbruch von Krankheit in die Welt der Literatur wird begleitet von Momenten des Rätselhaften und des Unbegreiflichen. Spinney gibt dafür weitere Beispiele an, etwa den Roman Love and Death (1939) des japanischen Schriftstellers und Malers Saneatsu Mushanokoji. Die Geschichte handelt von einem Mann, der aus Europa zurückkehrt und dort erfährt, dass seine Freundin an der Influenza gestorben ist. Die Weltwahrnehmung des Protagonisten wandelt sich. Eine Welt, die einst voller Glück und Licht war, zeigt sich düster. Die Tragik eines solchen Todes brachte Sigmund Freud auf den Punkt, als seine schwangere Tochter Sophie an der Grippe starb. In einem Brief an seinen Freund Ernest Jones bemerkt er, der Todesfalls sei ein „sinnloser, brutaler Akt des Schicksals”. Kunst gewann einen neuen Pessimismus. Ihre Sprache wurde pragmatischer und verlor ein Stück ihrer Erhabenheit, so zumindest die These.
„Da erkannte er, dass die Menschen so durch Zurfall starben und nur am Leben blieben, solange der blinde Zufall sie verschonte.” – Dashiell Hammet: Der Malteser Falke (1930). Jahre nach seiner eigenen Erkrankung mit der Spanischen Grippe findet Hammet Worte, die das Gefühl vieler Menschen während der Influenza-Pandemie widerspiegelt.
Ein widersprüchiges Bild
„Humbug”, nennt Dr. Harald Salfellner die Behauptung „daß die Spanische Grippe gewissermaßen der künstlerischen Moderne zum Durchbruch verholfen habe.” Auf eine E-Mail-Anfrage antwortet der Medizinhistoriker, die Spanische Grippe habe auf die Welt der Kunst erstaunlich wenig eingewirkt, „vermutlich, da sie sich vor dem Hintergrund epochaler politischer Geschehnisse abspielte.” Laut Salfellner war das Kunstleben schon vor Ausbruch der Pandemie durch den Krieg stark eingeschränkt, so zumindest in Mitteleuropa. In der Literatur und in den bildenden Künsten finden sich nur eine Handvoll Zeugnisse direkter Bezugnahmen auf die Grippewelle, im Großen und Ganzen wurde sie von Literat*innen und Künstler*innen nur gestreift. „So es überhaupt einen Bruch im Kunstgetriebe gab, so war das eher dem politischen Wandel geschuldet, nicht der wenige Wochen oder Monate grassierenden Influenza.” Dennoch schließt Salfellner Veränderungen durch die Spanische Grippe nicht aus. Eine sei in der amerikanischen Jazz-Musik zu finden, die mit Tonaufnahmen auf die Grippe reagierte.
Am einfachsten lässt sich der Einfluss der Spanischen Grippe dort nachvollziehen, wo sie zu neuen Schöpfungen führte. Laura Spinney führt hierfür den polnischen Komponisten Karol Szymanowski an, der im Herbst 1918 an der Grippe erkrankte und so zu seiner Oper König Roger inspiriert wurde. Edvard Munch porträtierte sich während und nach seiner Erkrankung selbst. Der Maler John Singer Sargent wurde vom British War Memorial Comittee als Künstler engagiert, um während des Krieges Zeichnungen von britischen und amerikanischen Truppen anzufertigen. Als er sich wegen der Grippe selbst ins Lazarett begeben musste, schuf er das Bild Interior of a Hospital Tent. Diese expliziten Beispiele sind aber in der Tat rar, wie Spinney selbst einräumt.
Die Kunst schaut auch weg
Viele Künstler*innen entschieden sich zu schweigen, aus Gründen, die nur sie selbst kennen. Vielleicht ein gewisser Eskapismus im Umgang mit den Grippewellen? Die britische Autorin findet dafür zwei Gründe. Einerseits konnten solche Krankheiten eine starke Stigmatisierung mit sich bringen. Gesundheitliche Probleme konnten zum Ausscheiden aus dem Wehrdienst führen, was für Betroffene wie Herman Hesse oder Ernest Hemingway als unehrenhaft galt. Den anderen Grund sieht die Britin in den zuvor erwähnten romantischen Traditionen, die explizite Anspielungen selbst auf eigene Erkankungen erschwerten. Sie analysiert daher auch einen Zuwachs an impliziten Erwähnungen von Krankheiten und führt diese auf die Spanische Grippe zurück.
Einen gänzlich anderen Grund für das Schweigen führt Salfellner an: Den Tod. „Durch die Grippe kamen in Wirklichkeit zahlreiche Künstler zu Tode, von denen man noch Großes hätte erwarten können – Schauspieler, Maler, Sänger. Der Bekannteste unter ihnen der Wiener Egon Schiele. Das spricht eher für eine Verarmung der nachfolgenden Kunstszene durch die Grippe.” Dem ließen sich noch Gustav Klimt und Franz Kafka hinzufügen, die ohne das Influenza-Virus womöglich ein längeres Leben vor sich gehabt hätten.
Gleichzeitig lässt sich dieses Argument auch umkehren. Der Tod etablierter Akteur*innen der Kunstwelt kann auch zu Brüchen führen: Einerseits, weil ihr Tod von der Öffentlichkeit und anderen Kunstschaffenden stärker wahrgenommen wird, andererseits weil danach Künstler*innen mit anderen Vorstellungen in die Szene drängen. Dennoch lädt Salfellners Blick, der sich stark auf Europa richtet, zu einem differenzierteren Urteil ein. Es wäre vereinfacht zu sagen, Kunst hätte sich in eine einzige, klare Richtung weiterentwickelt. Romantische Anklänge starben nicht einfach aus, sondern überlagerten sich mit anderen Tendenzen. Der russische Pianist und Komponist Sergej Rachmaninow etwa blieb romantischen Klängen zeitlebens treu. Igor Stravinsky wiederum erkrankte zwar an der Spanischen Grippe, war aber bereits vor 1918 innovativ (Feuervogel 1910, Petruschka 1911, Le Sacre du printemps 1913). Andere russische Komponisten wie Prokofjew und Schostakowitsch gingen Anfang des 20. Jahrhunderts völlig neue Wege, ohne dass man es direkt auf die Pandemie zurückführen könnte. Viele Erkrankte erholten sich und führten ihr Leben einfach weiter. Vielleicht hat Spinney also den Einfluss der Spanischen Grippe in Europa überschätzt. Ihre globale Perspektive führt zu Vereinfachungen. Da ist die Versuchung groß, sich bei der großen Quellenflut die Rosinen herauszupicken.
Der Reichtum einer globalen Sicht
Trotzdem lässt sich erst mit einer globalen Perspektive, wie Spinney sie versucht, die wahre Dimension der Pandemie erahnen. Die Spanische Grippe ließ keinen Ort der Welt unberührt. Und wie Spinney schreibt: „In Europa waren mehr Menschen im Krieg gestorben als an der Grippe, doch für alle anderen Kontinente traf das Gegenteil zu.” In China etwa starben laut Einschätzung von Patterson und Pyle zwischen 4 und 9,5 Millionen Menschen an der Krankheit. Indien verzeichnet von allen Ländern die meisten Todesfälle, zwischen 12,5 und 20 Millionen. Undenkbar, dass so ein großer Schock die Kunstwelt unberührt lässt. Was geschah in diesen Ländern?
Spinney gesteht, dass es schwierig ist, aus den vielen in China ausgebrochenen Epidemien eine als kulturell besonders prägend herauszugreifen. Sie betont aber, dass alle den Drang zur Modernisierung verstärkt haben. Deutlich wird das etwa durch die Neue-Kultur-Bewegung. Ihre Anhänger nahmen neben traditionell chinesischen Werten auch die veraltete Medizin aufs Korn. Sie drängten die Machthaber dazu, sich westlichen wissenschaftlichen Ideen zu öffnen. Der Schriftsteller Lu Xun, einer der führenden Schriftsteller der Bewegung und Begründer moderner chinesischer Literatur, machte persönlich schlechte Erfahrungen mit chinesischen Ärzten. Um seinen kranken Vater zu pflegen, verlangte ein Hausarzt nicht nur horrende Geldsummen, sondern schickte den damals 14-jährigen los, um zwei Grillen aus dem gleichen Erdloch für ein Heilmittel aufzutreiben. Es half nicht, der Vater starb. Lu Xun verarbeitete diese Erfahrungen in der Kurzgeschichte Medizin (1919).
„Und dann war da noch Indien, das Land, das angesichts der schieren Zahl der Todesopfer die Hauptlast der Spanischen Grippe getragen hatte.”, schreibt Spinney. „In den Werken, die in Indien in den 1920er-Jahren verfasst wurden, geht es sehr oft um Krankheit, kombiniert mit den Ideen zu einer notwendigen Reform des Kastensystems und dem Abwerfen des Jochs der britischen Kolonialherrschaft.” In Indien führte der Umbruch dazu, das bäuerliche Leben zum Hauptthema zu machen. Auch die Sprache der Werke veränderte sich und wurde weniger elitär. Munshi Premchand steht beispielhaft für diesen Wandel, er wurde zum „Chronisten des Dorflebens” um 1918. In seiner Heimat Uttar Pradesh forderte die Spanische Grippe zwei bis drei Millionen Leben. Dort war auch der Dichter Nirala beheimatet, damals erst 22, der seine Ehefrau und viele Familienmitglieder an die Grippe verlor. Religiöse Erklärungen für das Leid genügten ihm nicht. Später erinnerte er sich an die vielen Leichen im Ganges und schrieb in seinen Memoiren einen Satz, der auch von einer deutschen Schriftstellerin hätte stammen können, einem brasilianischen Angler, einem US-amerikanischen Handwerker. „Dies war die seltsamste Zeit in meinem Leben. Von einem Augenblick auf den anderen war meine ganze Familie verschwunden.”
„Über dem Tor der Kaserne wehte die rote Fahne. Sie schlappte nebeltriefend, schwer, armselig im kalten Wind. Natürlich stand sie auch grell und verheißungsvoll im grauen Novembertag. Mir bedeutete das Zeichen nichts, aber es verkündete mir, daß es Wunder gab, daß ich frei war, daß ich den Heldentod und den Grippetod besiegt, daß ich nachhause durfte und den Krieg gewonnen hatte.“ – Wolfgang Koeppen: Jugend, 1976
Krankheit ist durch die Spanische Grippe zur Lebensrealität für Menschen aller Länder geworden. Das zwanzigste Jahrhundert hat eine Grausamkeit gesehen, die der Romantik fremd war. Wie groß der Beitrag der Spanischen Grippe bei den Umbrüchen der Kunst am Anfang des 20. Jahrhunderts war, lässt sich unterschiedlich beurteilen. Seit Joseph Campbell (Der Heros in tausend Gestalten) gezeigt hat, wie ähnlich Geschichten aus unterschiedlichsten Zeiten und Kulturen sind, wissen wir, dass wir als Menschheit viel gemeinsam haben. Seit der Spanischen Grippe wissen wir, dass ein Unheil auch die ganze Menschheit treffen kann. Vielleicht ist es also nur natürlich, dass man für einen solchen Konflikt neue Ausdrucksmöglichkeiten gesucht hat. So sehr die Welt durch diese gemeinsame Krise erschüttert wurde, so sehr wurde ihr auch die Möglichkeit gegeben, näher zusammenzurücken. Die Erfahrungen eines deutschen Bauern und eines indischen Dichters mögen sehr unterschiedlich gewesen sein. Trotzdem konnten Menschen aus verschiedensten Kulturen auf das gleiche Ereignis zurückschauen und sich so miteinander solidarisieren. Ist die Welt näher zusammengerückt? Es ist zu bezweifeln, dass dieses Potential in der Spanischen Grippe genutzt wurde. Es bleibt zu hoffen, dass es mit Corona anders sein wird.