Vor dem Hintergrund der Lockerungen der Corona-Maßnahmen vom 28.05.2021 erfolgt ein Rückblick auf die charakterliche Neuausrichtung der Protagonistin L. Ein persönliches Drama in Zeiten von Corona.
Autorin: Luisa Berlinicke
1. Akt: Ende Februar 2020
In der Zeit vor der Krise war unserer Protagonistin L. nicht klar, welche Fähigkeiten in ihr verborgen waren. Sie war eine Person, die gerne ins Kino und auf Konzerte ging, sich mit Freunden verabredete und ein Theaterabo hatte. Interaktionen mit Menschen und das Auseinandersetzen mit Kultur und Kunst waren willkommener Alltag. Es gab viel zu tun und viel zu erleben und so gingen Ausgelassenheit und Erschöpfung stets Hand in Hand. Doch andere Zeiten drohten ihren Alltag für immer zu verändern.
2. Akt: Frühling/Sommer 2020
Die Politik zwang die Gesellschaft in das Dasein des Stubenhockers und verhinderte jede Möglichkeit der außerhäuslichen Freizeitgestaltung. Die Devise war, ein Leben innerhalb der eigenen vier Wände zu füllen. Der sehnsuchtsvolle Blick nach draußen wurde durch Masken verschleiert und mit negativen Querverweisen kombiniert. Abstand. Hygiene. Alltagsmasken. Immer absurder wurden die politischen Bestimmungen. So sollte man volle 30 Sekunden die Hände waschen und durfte sich nur noch mit Personen aus maximal einem anderen Haushalt treffen. L. erwartete, dass sich alles in ihr gegen die Maßnahmen sträuben würde. Stattdessen fühlte sie sich gut. Richtig gut. Endlich war ausreichend Zeit für alles da. Sie begann ihre Filmliste abzuarbeiten, fand die in der Uni verlorene Freude am Lesen wieder und veränderte ihren Schlafrhythmus. Die Nächte wurden länger und die Tage kürzer, obwohl es draußen immer wärmer wurde. Die kurzzeitigen Lockerungen nahm sie zwar wahr, nutzte sie jedoch nicht.
3. Akt: Herbst 2020
Es war wie eine Sucht: Das nächste Buch, der nächste Film, das neueste Videospiel, die neueste Staffel. Aus dem Bett an den Schreibtisch, um am Computer die neuesten Kapitel von immer gleichen Comics zu lesen. Vom Schreibtisch aufs Sofa, um mit einem Film einen Nachmittag vor dem Fernseher einzuleiten. Abwechslung ist wichtig, daher gibt es eine Kaffeepause auf dem Lesesessel mit einem Buch in der Hand. Um die Stille zu übertönen. Danach zurück aufs Sofa. Im momentanen Videospiel gilt es den nächsten Boss zu besiegen oder ein unnötiges Item von A nach B zu transportieren. Die Außenwelt liegt vergessen vor der Haustür. Einmal die Woche müssen in einer gefährlichen Expedition die nötigen Lebensmittel besorgt werden. Schlange stehen vor dem Einkaufsladen, das ist ausreichend Kontakt. Der Kulturkonsum besetzt jeden Alltagsaspekt. Ein Video während des Kochens, ein Film beim Essen. Gespielt wird bis in die Nacht und beim Einschlafen ist die Stille so einschüchternd, dass ein Podcast im Hintergrund laufen muss.
4. Akt: Frühjahr 2021
Es gibt zu viele Möglichkeiten. Zu viele Bücher. Zu viele Filme. Zu viele Spiele. Eine endlose Spielwiese. Aber unsere Protagonistin will nicht mehr spielen. Ein Buch aufzuschlagen, bedeutet es zu Ende lesen zu müssen. Der Film ist vielleicht echt schlecht und auf Netflix ist auch irgendwie nichts mehr zu finden. Alles Gute hat sie schon mal gesehen. Und die Videospiele. Riesige Projekte mit stundenlangen Storylines, die zwar großartig, aber trotzdem zu lang sind. Es ist nicht anders als am Anfang, aber da ist diese Müdigkeit. Diese Unlust. Der innere Schweinehund ist ein unbesiegbarer Endboss geworden. Immer häufiger geht ein kompletter Abend für die Entscheidungsfindung drauf. Immer häufiger kommt es zu keiner Entscheidung. Stille ist allgegenwärtig, ohne wahrgenommen zu werden. Apathisch liegt die fertig entwickelte Couch-Potato auf dem Sofa.